Die neue Freizügigkeit für osteuropäische EU-Bürger auf dem Arbeitsmarkt ist nicht unreglementiert

Seit 01. Mai 2011 können Arbeitnehmer aus den sog. EU-8-Staaten, d. h. aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen eine Beschäftigung in Deutschland aufnehmen, ohne dass es einer besonderen Arbeitserlaubnis mehr bedarf. Wir erläutern die wesentlichen Auswirkungen auf den hiesigen Arbeitsmarkt.

Zwar sind die genannten Länder bereits zum 01. Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union, doch wurde seinerzeit den alten Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt, die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV und damit den Zugang der Bürger aus EU-8-Staaten zum Arbeitsmarkt während einer in drei Phasen eingeteilten siebenjährigen Übergangszeit zu beschränken.

Deutschland hat von dieser Beschränkungsmöglichkeit dann auch tatsächlich Gebrauch gemacht. Diese Beschränkungsmöglichkeit ist nun zur genannten Frist, d. h. am 01. Mai 2011 ausgelaufen.

In den EU-8-Staaten ansässige Selbstständige hatten bereits von Anfang an, d. h. seit dem Beitritt der EU-8-Staaten im Jahre 2004, im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit die Möglichkeit, selbst oder durch Arbeitnehmer grenzüberschreitend Dienstleistungen zu erbringen. Dabei gab es sektorale Beschränkungen für die Baubranche, die Gebäudereiniger-Branche und für den Bereich der Innendekoration. Leiharbeitnehmer konnten nicht entsandt werden, ihnen war die Arbeitserlaubnis zu versagen (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 2 ArbeitserlaubnisVO).

Kommt der allgemeine Mindestlohn?

Das Auslaufen der Übergangsregelung zum 01. Mai 2011 wird demnach vor allem Auswirkungen für die beschriebenen Sektoren, d. h. für die in der Bau-, Innendekorations- und Gebäudereinigerbranche Beschäftigten, für Leiharbeitnehmer sowie für weniger qualifiziert Beschäftigte haben. Die Arbeitnehmer, denen der Zugang bisher verwehrt war und der nunmehr erlaubnisfrei eröffnet wurde, werden nun aktiv werden. Bürger der EU-8-Staaten benötigen seit dem 01. Mai 2011 keine Arbeitserlaubnis und keine Arbeitsgenehmigung mehr.

Mit diesem Weg kann einem in Deutschland drohenden oder bereits eingetretenen Arbeitskräfte- und insbesondere Fachkräftemangel entgegengesteuert werden. Voraussichtlich wird durch die Arbeitsaufnahme Geringqualifizierter das Lohnniveau für einfache Tätigkeiten insgesamt sinken.

In diesem Zusammenhang wird die Forderung nach einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn wieder aktuell werden. Wegen der Möglichkeit der Ausweitung branchenspezifischer Mindestlöhne und der Möglichkeit von Mindestlöhnen in der Zeitarbeitsbranche (Leiharbeit, Stichwort Tarifabschlüsse) wird dies aber nicht erforderlich sein.

Deutsches Recht oder Recht des Herkunftslandes?

Kommt ein EU-Ausländer „auf eigene Faust“ nach Deutschland, um hier zu arbeiten, und macht er von seinem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch, findet auf das in Deutschland begründete Arbeitsverhältnis regelmäßig deutsches Arbeits- und Sozialrecht Anwendung.

Werden dagegen Arbeitnehmer aus den EU-8-Staaten von ihrem Arbeitgeber zu Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat der EU entsandt, können die Vertragsparteien nach allgemeinem Internationalen Privatrecht (IPR) grundsätzlich selbst bestimmen, welches Recht auf das Arbeitsverhältnis anwendbar sein soll. Treffen sie keine Wahl, unterliegen sie regelmäßig dem Recht des Herkunftslandes. Ferner bleibt der Arbeitnehmer, wenn die Entsendung 24 Monate nicht übersteigt, weiterhin nach dem Recht des Entsendestaates sozial versichert.

Folge wäre, dass Unternehmen/Arbeitgeber im Grundsatz den entsandten Arbeitnehmer im Zielland zu den oft deutlich niedrigeren Löhnen (und Sozialabgaben) seines Heimatlandes einsetzen würden, sodass voraussichtlich Wettbewerbsvorteile gegenüber in Deutschland ansässigen Arbeitgebern auftreten könnten.

Aber: Das IPR lässt die Rechtswahl, die zu Wettbewerbsverzerrungen oder sozialen Verwerfungen führen kann, nicht unbegrenzt zu. Vor allem werden die nach dem deutschen Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträge und die damit für alle Arbeitnehmer eines bestimmten Bereiches gleichermaßen geltende Entlohnung einen Schutz bilden.

Branchenspezifische Regelungen

Nach EU-Recht werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, für den Baubereich bestimmte Arbeitsbedingungen (insbesondere Mindestlohnsätze, Mindesturlaub) unter gewissen Voraussetzungen für international zwingend zu erklären. Für andere Branchen räumt die Entsende-RL den Mitgliedstaaten das Recht ein, bestimmte Arbeitsbedingungen unter näher geregelten Voraussetzungen für international zwingend zu erklären. Die Entsende-RL wird in Deutschland durch das AEntG umgesetzt, das die Festsetzung insbesondere von Mindestentgeltsätzen in der Baubranche (Bauhauptgewerbe und Baunebengewerbe) sowie in acht weiteren Branchen zulässt (Gebäudereinigung, Briefdienstleistungen, Sicherheitsdienstleistungen, Bergbauspezialarbeiten auf Steinkohlebergwerken, Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft, Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst sowie Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen nach dem SGB II und III sowie Pflegebranche).

Liegen nach dem AEntG durch Allgemeinverbindlicherklärung oder Rechtsverordnung (so Pflegebranche) allgemeinverbindlich gewordene Tarifverträge vor, verdrängen diese während einer Entsendung nach Deutschland eventuell schlechtere Arbeitsbedingungen des Heimatrechts des entsandten Arbeitnehmers.

Equal Pay

Ferner haben Leiharbeitnehmer im Grundsatz einen Anspruch auf ein sog. Equal Pay. Dieser Anspruch ergibt sich mittelbar aus § 3 Abs. 1 Nr. 3 AÜG. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 AÜG kann indes ein Tarifvertrag abweichende Regelungen zulassen. Diese Regelung wurde nun modifiziert:

Der Bundesrat hat am 15. April 2011 dem AÜG-Änderungsgesetz zugestimmt. Mit dieser Änderung des AÜG wurde erstmalig eine absolute Lohnuntergrenze eingeführt. Durch die Lohnuntergrenze wird die Möglichkeit, von Equal Pay nach unten abzuweichen, begrenzt, und es  besteht die Verpflichtung, Leiharbeitnehmern während Verleihzeiten und in verleihfreien Zeiten mindestens den Anspruch auf einen tariflichen Mindestlohn zu gewähren. Dieser Mindestlohn wird dann in einer Rechtsverordnung verbindlich festgesetzt. Wird der festgesetzte Mindestlohn in einem Tarifvertrag unterschritten, hat der Zeitarbeitnehmer Anspruch auf die Zahlung von Equal Pay bzw. mindestens auf den durch Rechtsverordnung festgesetzten Mindestlohn.

Diese Regelungen gelten auch in den Fällen, in denen sich die Entlohnung eines aus den EU-8-Staaten entsandten Leiharbeitnehmers aus einem Tarifvertrag seines Heimatstaates ergibt. Unterschreitet beispielsweise das in einem polnischen Tarifvertrag vorgesehene Stundenentgelt die in der deutschen Rechtsverordnung festgesetzte Mindestlohnuntergrenze, hat der aus Polen entsandte Arbeitnehmer Anspruch auf denselben Lohn, der einem vergleichbaren Stammarbeitnehmer des Entleiherbetriebes gezahlt wird.

Des Weiteren müssen Zeitarbeitsunternehmen aus den EU-8-Staaten ebenso wie deutsche Zeitarbeitsunternehmen die nach dem AEntG geltenden branchenspezifischen Mindestlöhne einhalten, wenn

  • der Zeitarbeitnehmer im Entleihbetrieb mit Tätigkeiten beschäftigt wird, die in den Geltungsbereich einer Mindestlohnregelung nach dem AEntG fallen oder
  • der Entleiher unter den Anwendungsbereich einer nach dem AEntG festgesetzten Mindestlohnregelung fällt (vgl. § 8 Abs. 3 AEntG).

Nur auf den ersten Blick erscheint der Zugang von Arbeitnehmern aus EU-8-Staaten nun also unreglementiert möglich zu sein. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass zum großen Teil Regelungen nach deutschem Recht zur Anwendung kommen, die strikte Vorgaben zu den Arbeitsbedingungen machen (so bspw. Lohnhöhen).

Vor dem Einsatz von Arbeitnehmern aus den sog. EU-8-Staaten sollte daher genau überprüft werden, welche Regelungen dann zum Tragen kommen werden.